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SiegessäuleArtikel Dezember 2006 |
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Ein Besuch bei den Lebenden Die altgediente Polit-Tunte Ichgola Androgyn hat auf dem St.-Matthäus-Friedhof ein Café eröffnet. Im Finovo wird geheult und gelacht, und es entstehen Freundschaften. Der Herbstwind treibt bunte Blätter über die Gräber, Friedhofsangestellte harken die Wege, und dick eingemummelte Menschen eilen mit Tannengrün und Gießkanne vorbei. Ichgola Androgyn fühlt sich wohl. "Ich mochte den Friedhof schon als Kind", sagt sie, "es ist alles Natur. Ich horche dem Wetter und den Vögeln und dann ist das, als wenn man schwebt." Seit einigen Wochen hat sie zum Schweben jeden Tag Gelegenheit. Direkt hinter dem Tor zum Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg betreibt die altgediente Polit-Tunte ein Café mit Blumenladen. Der Friedhof hat sich in den letzten 20 Jahren zu so etwas wie dem schwulen Zentralfriedhof der Stadt entwickelt. Regenbogenfahnen auf Gräbern sind keine Seltenheit. Zugleich ist der Alte St.-Matthäus-Kirchhof kulturhistorisch einer der wichtigsten in Berlin. 1856 wurde er als Begräbnisplatz einer reichen und kunstsinnigen Gemeinde angelegt. Die Brüder Grimm liegen hier zum Beispiel oder der liberale Mediziner Rudolf Virchow insgesamt über 50 Ehrengrabmäler prominenter Persönlichkeiten hat die Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in den letzten Jahren gesichert und restauriert. Die Gräber sind teilweise monumental angelegt und mit Marmorstatuen und aufwändigen Reliefs versehen. Nur eine eigene Gemeinde hat der Alte St.-Matthäus-Kirchhof seit sechs Jahren nicht mehr. Die Verwaltung übernahm im Jahr 2000 die Zwölf-Apostel-Gemeinde und seitdem standen die kleinen Bürogebäude am Friedhofseingang an der Großgörschenstraße leer. Bis Ichgola Androgyn kam. Die Schwulenaktivistin und Profi-Tunte baute Mitte dieses Jahres die Räume für wenig Geld zu einem kleinen Café um. Finovo heißt die gemütliche Stube, eine Verbindung der lateinischen Wortteile fin und novo, die Ende und Anfang bedeuten. "Das n überlappt genau so, wie ich das Leben ein Stück weiter reinziehe in den Kirchhof", erklärt Ichgola. Die Wände strahlen in einem warmen Gelb, verziert mit Blumenmalereien, das Mobiliar ist liebevoll zusammengewürfelt, auf den Tischen brennen Kerzen auf rot-weißen Tischdecken, und auf einem Teewagen liegt neben einem Buch über Trauerarbeit die Siegessäule. 57 "queere" Gräber hat Ichgola Androgyn bisher gezählt, von Schwulen, Lesben und anderen Menschen, die "sich erst einmal behaupten mussten, um Selbstverständlichkeit zu erlangen". Auch das Grab von Ovo Maltine ist dabei, Ichgolas langjähriger Freundin und Wegbegleiterin. Mitte der 80er lernten sich die beiden kennen und gründeten mit BeV StroganoV und Tima der Göttlichen eine Wahlfamilie. Zeitweise lebten die vier Tunten gemeinsam auf einem Hausboot. Vor einem Jahr starb Ovo Maltine, seit langer Zeit HIV-positiv, an Lymphdrüsenkrebs und wurde auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof beigesetzt. Seitdem besucht Ichgola, wenn nichts dazwischenkommt, jeden Tag Ovos Grab. "Ich setz sie unter Wasser, ratsch ein bisschen mit ihr, sing ihr ein Lied. Für manche ist der Besuch auf dem Friedhof ja wie ein Zwang, das hab ich nie verstanden." Der Friedhof ist für Ichgola ein Ort der Kommunikation mit den Verstorbenen, die auf einer anderen Ebene gelandet sind. Wenn sie über den Alten St.-Matthäus-Kirchhof geht, spürt sie ein Energiefeld. "Der Mensch ist ja nicht weg, der Körper ist weg. Du merkst das, was hier an Energie frei wird." Andere, für die der Gang zum Grab der verstorbenen Lieben auch keine lästige Pflicht ist, kommen anschließend ins Finovo. Bei einer Tasse Kaffee mit Kuchen oder einer Suppe reden sie und wärmen sich auf, und es entstehen Freundschaften. Nach spätestens einer Stunde kennt jeder das Grab, das der andere besucht, jeder kennt ein großes Stück der Geschichte des Einzelnen. "Es wird miteinander geheult und gelacht", sagt Ichgola. Sie glaubt, dass diese Intensität im Miteinander ihrer Gäste auch am ungewöhnlichen Ort des Cafés liegt. "Viel vom Habitus, den man draußen braucht, um unnahbar zu sein, wird hier abgelegt. Darum springen die Funken leichter über." Damit jeder das Angebot im Finovo wahrnehmen kann, sind die Preise bewusst niedrig gehalten. Kaffee gibt es schon für einen Euro, ein Stück Torte oder Eintopf kosten zwei Euro. Außerdem verleiht Ichgola Gießkannen und bietet in einem kleinen Nebenraum Blumen und Gestecke an. Sie versteht ihr Café als Gemeindehäuschen. "Gemeinde ist eine größere Form von Familie. Und es sind viele einsame Leute hier." Ihre Gäste danken es ihr mit Geschenken, weiteren Einrichtungsstücken für das Café und mit vielen positiven Zuschriften, die die Friedhofsverwaltung in den wenigen Wochen, in denen es das Finovo gibt, bekommen hat. Und Ichgolas Gemeindearbeit geht noch weiter. Zurzeit vergibt sie symbolisch Patenschaften für die Stühle im Café, um mit dem eingenommenen Geld eine Behindertentoilette bauen zu können. Im nächsten Jahr will sie auch die Räume im ersten Stock des ehemaligen Verwaltungsgebäudes renovieren, wo dann Trauerfeiern, Gesprächsrunden und Lesungen stattfinden können. Außerdem plant sie Matinees und kleine Konzerte vor der Friedhofskapelle. Wenn sie mal nichts zu tun hat, übt sie für die Auftritte der O-Ton-Piraten, zu deren Ensemble sie seit ein paar Wochen gehört. Ichgola Androgyn bringt Leben auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof und kann mit Fug und Recht behaupten: "Mit Tod hat das hier nichts zu tun." Frauke Oppenberg Finovo auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof, Großgörschenstraße 12-14, Nähe Monumentenstraße, Schöneberg, S + U Yorckstraße Siegessäule, Berlin / Dezember 2006 |
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